(24.5.2024) Der Titel hätte meiner Ansicht nach auch „Mädchen zwischen den Stühlen“ oder „Mädchen zwischen den Seilen“ heißen können, geht es doch um die Gefühle einer angehenden 13-jährigen in Ostberlin im Jahr 1973, die ihren Platz (ihren Stuhl) innerhalb Familie und Gesellschaft sucht. Was eigentlich Halt und Sicherheit für eine freie Entfaltung geben sollte (die Familie nämlich), entpuppt sich hier als eine Art von Gefängnis. Vater und Mutter haben ihre Probleme miteinander, sind auf Abschirmung der Familie nach außen bedacht und wenig in der Lage, ihre heranwachsende Tochter zu verstehen bzw. verstehen zu wollen. Bezeichnend, dass Simones Zimmer als Esszimmer genutzt wird, in dem sich die Familie zu Mahlzeiten trifft. Simone hat somit neben ihren Pflichten im Haushalt und der Aufsicht auf ihren 5-jährigen Bruder (Abholung vom Kindergarten) kaum einen eigenen, unangetasteten Rückzugsort im Elternhaus. Besuche durch Freundinnen oder Klassenkameradinnen scheinen unerwünscht zu sein. Kein Wunder, dass Vertrauen zu außenstehenden Personen fehlt, sieht man einmal von Frau Schultz ab, einer Rentnerin, die benachbart wohnt.
In diese soziale Finsternis scheint die Freundschaft zu Mario, einem etwas älteren Nachbarsjungen, wie ein Sonnenstrahl einzubrechen. Simone lebt auf, doch das Umfeld ist stärker und drückt sie nieder. Ihe Eltern machen ihr wider besseren Wissens Vorwürfe (unsittlicher Umgang), Mario und sie geraten in das Visier eines Vopos (Höhlenbau auf grenznahem Gelände – Vorwurf der Republikflucht). Eine aufkommende Befreiung aus Familienzwängen wird im Keim erstickt.
Leserinnen und Leser erfahren Alltägliches (s. die Anmerkungen auf den Buchseiten) über das Leben in Ostberlin nahe der Mauer: Überwachung durch Grenzsoldaten und Abschnittbevollmächtigte stehen auf der Tagesordnung. Hinterhäuser in Mauernähe sind nur mit besonderer Genehmigung zu besuchen. „Selbst die kleinsten Kinder in der Straße wissen, wo sie hindürfen und wo nicht“ (S. 40).
Kein Wunder, dass der Druck auf Simone wächst (Befragung durch den Vopo, Sorge um Mario), was sich in unkontrollierbaren Wutausbrüchen äußert (das Heißer-Wind-Gefühl). Die Sonne und Wärme der ersten Liebe wandelt sich in Schwärze (s. Teil 2, ab S. 87).
Simone wird von Albträumen geplagt, die ihr auch körperlich zu schaffen machen. Sie wird krank, verliert ihr Lachen, ihre Unbekümmertheit, und wird in eine Nervenklinik eingewiesen. Der Weg zurück in Familie und Schule erweist sich als steinig. Ihre Eltern lehnen psychologische Unterstützung ab (wohl weislich im Bewusstsein, dass auch sie zur Verantwortung gezogen werden könnten), Frau Schultz, ihre einzige Vertrauensperson außerhalb, hat als Rentnerin den Ausweg nach Westberlin gesucht (vorher denunziert durch Nachbarn).
Der Ausblick durch Wiederaufnahme des Schulbesuches klingt auf den ersten Blick optimistisch (die Aussicht Mario wiederzutreffen), doch es bleiben Zweifel: Simones Familie wird sich nicht ändern, das Misstrauen bleibt und die gesellschaftspolitischen Verhältnisse können sich nicht ändern (zumindest nicht im Jahr 1973). Zurück bleibt eine Jugendliche, die sich vielleicht selbstbewusster aufstellen wird, der aber nur zwei Optionen bleiben: Anpassung, so weit gefordert, bei Rückzug ins Private (Innere Emigration) oder offener Widerstand, der unweigerlich zur Konfrontation mit der Obrigkeit führen wird.
„Mädchen zwischen den Zeilen“ ist eine Begegnung mit „Seilen“, die eigentlich auffangen sollten (Familie, Staat), stattdessen aber erdrücken, wenn sich junge Menschen frei entwickeln wollen.
Ein Jugendbuch, dass gut in den Schulunterricht über neuere deutsche Geschichte passt.
Mit Dank und freundlichen Grüßen zum Wochenende
Christian Kühn, Kurator der Kibum